Seelenwanderungen

(1994)

Was ist der Sitz der menschlichen Seele ? Wo ist sie ?

Beim Deutschen, sagt man, sei sie im Herz, beim Franzosen in der Leber, beim Asiaten im Bauch. Kann sie wandern ? Ich meine ja, in bescheidenen Maße, aber existentiell wichtig: die des Pianisten begibt sich beim Konzert zum Teil in seine Finger, bei einer Umarmung ist sie in die liebkosenden Handflächen und in die Lippen der sich Küssenden geflossen.

Ich komme mit Pia zusammen. Zu einem Spiel ? Nein. Zu einer Zeremonie, zu einem Menschenopfer. Die schwarzen Opferkerzen brennen. Wir umarmen uns, wir küssen uns. Wir pressen uns aneinander und umschlingen uns, denn es ist ein Abschied. Zwar nur für eine Stunde, aber ein sehr wesentlicher Abschied.

Meine Lippen wandern von ihrem Mund zu ihrem rechten Oberarm, zum Unterarm, zu ihrer rechten Hand, die den Griff der Geisel hält. Ich küsse auch diesen Griff und die fünf Schnüre, denn ich weis, gleich werden diese toten Dinge beseelt sein. Mit ganz besonderer Andacht küsse ich die kleinen harten Kugeln, vor allem die äußersten: bis in sie hinein wird Pias Seele sich ausdehnen und sie werden tief in mein Fleisch eindringen. Es ist ein Abschied. Sie tritt zurück. Ich habe Angst.

Es ist nicht nur Angst. Es ist auch Sehnsucht. Ich lege mir die Manschetten und die Augenbinde an, entkleide mich und hänge die Karabinerhaken in den Flaschenzug ein.

Sie zieht mich hoch. Sehr gestreckt kann ich noch stehen. Ich bin von der Freiheit befreit. Das macht mich ruhig, gesammelt, aufnahmebereit. Stille.

Nach dem Abschied ein neues Kommen, ein neues sich Treffen. Erst ein wenig Spielen mit Schmerzchen, ein Tändeln; eigentlich unwürdig. Aber nach DIN-Vorschrift SM-01440 als "Aufwärmen" vorgeschrieben.

Dann das Geräusch periodischer Wirbelablösungen an einem schnell durch die Luft bewegten Körper, vulgo: Pfeifen. und ein Aufschlag und noch ein Aufschlag, nein das war kein Aufschlag mehr, das war eine Einschlag. und noch ein Einschlag. und, und .... Und die Ernüchterung. Der sehr schmale Schmerz vertreibt die Sehnsucht. Die immer wieder in die Schultermuskulatur eindringende Geisel erzeugt in mir ein ganz und gar unerotisches, lautes, unwilliges, in vollem Protest hinausgeschreienes "Au". Immer wieder. ich zapple unwürdig herum, deshalb hasse ich jetzt die Zuschauer (ich sehe sie zu Glueck nicht), und mich selbst.

Die Geisel wandert von der einen Schulter zur anderen. Ich weisz nicht mehr, daß dich es ja wollte, ich weisz kaumm mehr, daß die wunderbare liebharte Pia die Geisel schwingt. Ich bin dagegen. ich bin ganz Protest. Meine Seele hat sich von der Oberflaeche des Körpers in einen winzigen Punkt ganz im Inneren zurückgezogen. Aus Not ?

Die Geisel wandert abwärts zu Gesäß- und Schenkelmuskulatur. Die Zeit vergeht zäh. Ich stehe in Flammen. "Gnade !"

Pia streichelt mein Gesicht, meinen brennenden Körper. Sie spürt was sie angerichtet hat, da wo die Schnüre sich um den Körper herumgewickelt haben. Ich empfinde diese Liebkosungen unbeschreiblich süß. Sie lockt meine Seele aus dem Schmollwinkel.

Die nächsten Hiebe sind genauso hart, sie treffen nochmals hoch- empfindlich gewordene Stellen. Nur: ich stehe nicht mehr in einem Feuer, ich glühe von innen heraus, und diese Glut trifft sich mit den ins Fleisch einschneidenden Schnüren mit je sieben harten Perlen. Der Schmerz ist genauso scharf wie zu Beginn, aber ich nehme ihn an, ich will ihn, weil ich wieder weis, was ihn verursacht: von Pia beseelte Materie. Endlich kann ich mich hingeben. In dieser wunder- baren Glut kommen wir zusammen und verstehen uns ganz tief.

Ein warmer strahlender Frauenkörper schmiegt sich sanft an mich. Pia liebkost mich. Rückkehr ! Sie nimmt mir die Manschetten und die Augenbinde ab, gibt mir die Freiheit und die Welt. Wir tauchen den Blick des einen in den des anderen. Ich umarme sie, wir tanzen herum, fröhlich wie Kinder, glücktrunken wie es Erwachsenen zukommt, und selig wie Engel

Nikodemus


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